All Diese Gewalt - Alles ist nur Übergang (lim.ed. Pink Vinyl)
Rezension
Wer die wahre Größe Max Riegers ermessen will, der - freilich - muss seine Soloalben anhören, die er unter dem Namen All diese Gewalt veröffentlicht. „Kein Punkt wird mehr fixiert“ hieß das Solo-Debüt 2014, seither sind zwei weitere Alben erschienen, das majestätisch-weiche „Welt in Klammern“ 2016 und das kühle „Andere“ von 2020. „Alles ist nur Übergang“ ist nun sein viertes Werk als All diese Gewalt, es führt die großen Linien des Rieger'schen Schaffens fort und hebt seine Kunst doch auf eine neue Ebene: So organisch, so schwebend hat seine Musik noch nie geklungen, so scheinbar anstrengungslos dahingespielt und zugleich intensiv, mit einem unwahrscheinlichen Gespür für Dramaturgien, für das rechte Maß zwischen dem Treibenlassen der Klänge und dem plötzlich alles ändernden Break.
Alles ist im Übergang, und alles befindet sich dabei an seinem richtigen Platz und in seiner richtigen Zeit: Von allen Solowerken, sagt Max Rieger, sei dies dasjenige, das sich am ehesten von selber ergeben habe und aus sich selber heraus. „An dem Album davor habe ich über vier Jahre gearbeitet, und ich wurde nie fertig, weil sich meine Vorstellungen von der Musik während des Prozesses ständig veränderten“. Dann kam die Corona-Pandemie, und er komponierte zwei Jahre lang gar nichts. Plötzlich aber ging alles ganz schnell: Die Lieder, die man auf dem neuen Album nun hört, seien binnen kürzester Zeit aus ihm herausgeflossen, „wie ein warmer Schwall Erbrochenes“, sagt er. Es ging alles sehr schnell, und dann war es auch sehr schnell wieder vorbei. Es kam der Schwall, und als er wieder versiegte, wusste Max Rieger, dass es gut damit war, „das Erbrochene war gewissermaßen aus einem Guss“.
„Alles ist nur Übergang“: Das ist für ihn zunächst auch eine Einsicht in das Wesen des Komponierens, der künstlerischen Schöpfung im Allgemeinen. „Alles ist nur Übergang“, das heißt: Kunst zu erschaffen, das ist immer ein Prozess. Man kommt ohnehin nie an ein Ende, an dem man sich selbst und der Sache gerecht wird, darum ist es legitim, Unvollständiges als vollständig zu erklären und es loszulassen. Dass er nicht an das Ende glaubt: das hört man daran, dass die Musik von Max Rieger sich immer auf sich selbst zurück zu falten scheint; wenn sie nach vorne strebt, dann blickt sie dabei auch immer zurück und zur Seite; sie handelt von Schwebezuständen, von Momenten der Kontemplation und der Irritation und davon, wie es sich anfühlt, wenn man zwischen Kontemplation und Irritation nicht mehr zu unterscheiden vermag. Das zentrale Stück des Albums trägt den Titel „21 Gramm“, es handelt vom Gewicht der Seele, von der Flüchtigkeit des Seins und davon, dass die Bedeutung des Daseins im Bereich des Nicht-Messbaren liegt, „hier hatte ich gleich das Gefühl, dass dieser Zustand der Schwebe, den ich anstrebe, am besten gelungen ist: das Verhältnis zwischen hart und weich“, und wie man ergänzen könnte: das Verhältnis zwischen Introspektion und Intensität, zwischen den Blicken, die tief in das Innere führen, und jenen, die sich nach außen richten, in das Offene, in die Transzendenz: in die Verheißung des Werdens, der Möglichkeit, in das Wissen, dass alles, auch wenn es so gut ist, auch ganz anders hätte sein können. So ist es mit der Musik von Max Rieger wie mit dem Leben im Ganzen.
Die Solomusik von Max Rieger ist eine Musik der Introspektion, der radikalen Subjektivität. Dass sie dabei nicht fahrig wird oder beliebig, verdankt sie dem Wissen, dass Subjektivität erst entsteht im Konflikt mit der Welt, dass das Eigene sich nur aus der Aneignung von Anderem zu ergeben vermag. Das Andere, das sind auf diesem Album die Samples, die Max Rieger sich angeeignet hat: „Bevor ich die Songs zu konzipieren begann, habe ich ein paar Wochen damit verbracht, alte Klassik-Platten zu kaufen, auf Vinyl, und die habe ich gesampelt und aus den Sounds Instrumente gebaut.“ Es sind Chöre und Orchester-Sounds, die sich überall in den Songs finden, eingewoben in die Texturen, selten für sich alleine stehend, aber immer von leitender Kraft. Dazu kommen verwaschene EGitarren-Sounds, Synthesizer, ein bisschen Klavier, Schlagzeug. „Aber Basis für jeden Song ist immer ein Drone, ein stehender Ton, der die Stimmung vorgibt, den Vibe.“ Auf dieser Basis erschafft Max Rieger musikalische Kräftefelder, Texturen, die sich langsam in Bewegung zu setzen beginnen. Doch erschafft er darüber auch - und das unterscheidet seine Musik von dem, was wir uns als „Ambient“ zu bezeichnen angewöhnt haben - die eingängigsten Melodien, die man sich vorstellen kann; Melodien, die sich sofort im Ohr verhaken; denn Max Rieger ist nicht zuletzt einer der besten und ausdrucksstärksten Sänger seiner Generation.
Man höre, wie er in dem Stück „21 Gramm“ über rauschenden Chor-Fragmenten und leisem Säuseln, zu sacht einsetzenden Bässen und hohlem Gepoche über das Gewicht seiner Seele singt, über die Zerbrechlichkeit des Seins und der Liebe und des Zutrauens zu anderen Menschen; und man höre, wie er in dem nächsten Stück „zu Staub werden“ dann zu einem leichten Gitarrenriff, zu einer schief schlingernden Gesangsschleife und einem schließlich tiefe Rillen in den Klangraum kerbenden Schlagzeug in den Himmel fliegt, „hundert Kilometer über der Erde“; und man höre, wie er im Finale des Albums, dem Titelstück, zu einem wie aus Geigen-Pizzicati gestalteten Rhythmus mit Slide-Gitarren-Begleitung zu Glockenklängen und schließlich wehmütig sich aufbäumenden Feedbacks und einem wie aus dem Äther heranwehenden dumpfen Geisterstimmenchor davon singt, wovon seine Musik handelt: „Ich nähere mich an / wär so gerne näher dran / aber ich komm nicht näher ran / ich komm nicht näher ran / alles ist nur Übergang / nur Übergang“.
Tracklisting
1. ICH BIN DAS LICHT< |
>2. 21 gramm< |
>3. zu Staub werden< |
>4. Beleuchtete Höhle< |
>5. etwas fehlt< |
>6. 100.000 TONNEN< |
>7. so leicht< |
>8. Ab AB ab< |
>9. Ihr seid nicht allein< |
>10. ALLES IST NUR ÜBERGANG |
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